KUB 2020.02
Unvergessliche Zeit
05 | 06 – 30 | 08 | 2020
Während der Sommerwochen zeigt das Kunsthaus Bregenz eine einmalige Sonderausstellung, die dem prekären Lebensgefühl seit dem Beginn der Corona-Krise nachspürt. Das Kunsthaus Bregenz ist somit die einzige Institution in Österreich, die punktgenau auf die gegenwärtige Situation reagiert und mit Unvergessliche Zeit aktuelle Beiträge von sieben der bedeutendsten internationalen Künstler*innen der Gegenwart präsentiert. Die KUB Besucher*innen erwarten Einblicke in die Existenzbedingungen der Gegenwart.
Es sind die Wissenschaften, die versuchen, Lösungen anzubieten, aber es sind die Künste, die die Zwangslagen der Krise darstellen. Insbesondere die zeitgenössischen Künstler*innen entwickeln ein Gespür für wechselnde Stimmungen, für Angst und Zweifel. Sie erschaffen Welten »im Angesicht eines radikalen Orientierungsverlusts und großer Verluste« (so die US-amerikanische Philosophin Judith Butler in einem Interview). Das Kunsthaus Bregenz ist ein Haus der zeitgenössischen Kunst, deshalb zeigen wir in dieser außergewöhnlichen Situation eine Ausstellung, die diese besondere Gegenwart abbildet.
Unvergessliche Zeit versammelt Werke, die entweder während der Krise entstanden sind oder sich als ihre Vorahnung lesen lassen. Vieles steht infrage: das Zusammenleben, die politische Gemeinschaft, die wirtschaftliche Lage, ethische Gebote, das Ich und die Existenz. Angesichts der radikalen Erfahrung, dass die Welt ganz anders sein kann als bislang vorstellbar, gibt es Versuche des Rückzugs und der Sinnsuche. Manche der Werke zeigen Stille und Intimität. Andere zeichnen gesellschaftliche Konsequenzen, die Gefahr durch politische Entfremdung und den Verlust demokratischer Rechte. Schließlich finden sich auch Hinweise auf die apokalyptische Dimension des Geschehens, den Zusammenbruch.
Herausragende Künstler*innen der Gegenwart sind der spontanen Einladung des KUB gefolgt. Wir sind stolz, diese Ausstellung jetzt zeigen zu können – als Abdruck einer unvergesslichen Zeit.
Helen Cammock
Was bedeutet es, durch die Pandemie gebremst zu werden? In Helen Cammocks ruhigen Beobachtungen ist es erahnbar: Blicke aus dem Fenster, Aussichten auf die englische Landschaft, auf Haine, Wälder und Hinterhöfe wechseln mit Nahaufnahmen. Die Bilder tasten sich an die Dinge heran. Cammock unterlegt ihre filmischen Streifzüge mit einer lyrisch anmutenden Stimme. Gedanken und Gesänge klingen an, sie zitiert Nina Simone, Maya Angelou, Walter Benjamin. Alle diese Eindrücke sind von Entschleunigung geprägt. Das titelgebende Thema des Filmes ist »Idleness«, Trägheit. Cammock geleitet uns durch die Gemütszustände der Einsamkeit und verknüpft sie mit Gedanken über Arbeit und Muße, Gerechtigkeit und Ausbeutung.
Helen Cammock, geboren 1970 in Staffordshire, Großbritannien, war zunächst Sozialarbeiterin, zudem trat sie als Sängerin in Clubs auf. Ihr Werk wurde u. a. mit dem Max Mara Art Prize for Women und im vergangenen Jahr mit dem renommierten Turner Prize ausgezeichnet. Cammock lebt in London.
William Kentridge’s The Centre for the Less Good Idea
Im Zentrum der Arbeiten William Kentridges steht die kolonisierte Gesellschaft Südafrikas, das Leben geprägt von Unterdrückung, Ausgrenzung und Flucht. Trotz dieser Themen tragen seine Werke auch humoristische Züge. Während der Quarantäne dreht Kentridge einminütige Filme, poetisch-surreale Miniaturen aus dem Atelier. Kentridge tritt auch als Mentor anderer Kunstprojekte auf: Er gründete 2016 in Johannesburg The Centre for the Less Good Idea, das Performances, Musikdarbietungen und Theaterveranstaltungen zeigt. Eine für April 2020 geplante Veranstaltungsserie musste aufgrund der Verbreitung des Coronavirus abgesagt werden. Die ursprünglich geladenen Künstler*innen wurden gebeten, digitale Beiträge zu übermitteln. Bronwyn Lace, Direktorin des Centres, stellte einige dieser Arbeiten in der Länge von je einer Minute zu einem abwechslungsreichen Instagram-Thread zusammen. Im Kunsthaus Bregenz wird 29 Long Minutes erstmals als Film zu sehen sein.
William Kentridge, geboren 1955 in Johannesburg, Südafrika, schafft ein Werk, das sich aus den sozialen und politischen Verhältnissen der Post-Apartheid speist. 1992 gründete er die Handspring Puppet Company, später inszenierte er Opern. Seine Filme zeigte er auf der Biennale di Venezia und mehrmals auf der documenta. Kentridge lebt in Johannesburg.
Annette Messager
In den 1980er Jahren stellte Annette Messager Installationen zusammen, die sie »Chimären« nannte. In diesen finden sich übergroße Alltagsgegenstände, Fotografien verzerrter Körperteile und groteske Kreaturen. Später zeigte Messager fotografierte Ausschnitte ihres eigenen Körpers in verschiedenen Maßstäben, die sie übermalte oder aufspießte. Dazu kombinierte sie Stofftiere und abgehängte Netze. Die Assemblagen wirken wie abgründige Votivtafeln, verwundete Landschaften oder schaurige Fantasien. In den letzten Jahren trieb Messager die Erforschung des Körpers weiter. Tiere und Menschen sind zu hybriden Wesen vernäht. Makaber ist die Serie von Aquarellen, die seit der Corona-Krise entsteht. Die Arbeiten sind eine Reaktion auf eine Kopf-Operation im letzten Oktober und zeigen Schädel: Jedes einzelne dieser Bilder ist furchteinflößend und doch von erhabener Schönheit und intimer Sensibilität.
Annette Messager, geboren 1943 in Berck-sur-Mer, Frankreich, vereint in ihrem Schaffen, das sich mit der Rolle der Frau auseinandersetzt, verschiedene Ausdrucksformen und Materialien. Sie gewann u. a. 2005 den Goldenen Löwe der Biennale di Venezia sowie das Praemium Imperiale im Jahr 2016. Messager lebt in Paris.
Rabih Mroué
Rabih Mroués Werke sind zwischen bildender Kunst, Theater und wissenschaftlichem Vortrag angesiedelt. Für seine »Lecture Performances« kommentierte er unter anderem Aufnahmen aus Konfliktgebieten des arabischen Raumes. Mroué interessiert, wie Bilder Geschichten konstruieren. Das findet sich auch in der Arbeit Chalk Outlines, die die Umrisse menschlicher Figuren in weißer Kreide auf schwarzem Untergrund zeigt. Hastig wechseln die Bilder, die Figuren vereinzeln, schweben oder zucken. Sie wirken geritzt und schattenhaft wie Radierungen, Graffiti oder mangelhafte Negative. Ob die dargestellten Menschen schlafen oder ob man auf die Umrisse einer Tatorterhebung blickt, bleibt offen. Nur ein eingefügter Text lässt erahnen, dass es sich um ein Selbstporträt in Zeiten der Isolation handelt.
Rabih Mroué, geboren 1967 in Beirut, Libanon, ist Autor, Regisseur, Performance- und bildender Künstler. In seinem Werk beschäftigt er sich mit den sozialen und kulturellen Wirkungen von Konflikten. Mroués Arbeiten waren u. a. im MoMA, New York, in der Londoner Tate Modern, im Centre Pompidou, Paris, und 2012 auf der dOCUMENTA (13) zu sehen. Er lebt in Berlin.
Markus Schinwald
Schon in den 1990er Jahren entstand eine Serie von Bildern, für die er historische Gemälde bearbeitete: Schinwald erwarb Porträts aus der Zeit des Biedermeier und des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er verfremdete die Abgebildeten, fügte Gebrechen, körperliche Beeinträchtigungen oder Handicaps hinzu. Dafür manipulierte Schinwald die Gesichter mit restauratorischen Mitteln, er ergänzte Brillen, Spangen und verstörende medizinische Behelfe. Unter ihnen finden sich auch Masken, wie sie derzeit im öffentlichen Raum vorgeschrieben sind. Lange vor der Corona-Krise als Erfindungen surrealer Einbildungskraft entstanden, erscheinen diese Werke heute als Dokumente erstaunlicher Vorahnung.
Markus Schinwald, geboren 1973 in Salzburg, arbeitet in Malerei, Skulptur, Video und Theater. Stets vermitteln seine Werke mysteriöse und beunruhigende Atmosphären. Sie waren u. a. in der Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, und in der Tate Modern, London, zu sehen; 2009 zeigte das KUB eine Einzelausstellung. 2011 vertrat Schinwald Österreich auf der Biennale. Er lebt in Wien und New Haven, Connecticut.
Marianna Simnett
Marianna Simnett benutzt lebendige und tiefgreifende Mittel, um den Körper als Schauplatz der Transformation zu erforschen. Das Kunsthaus Bregenz präsentiert zwei Werke der Künstlerin, die während des globalen Shutdowns entstanden sind.
In Tito’s Dog (2020) setzt Simnett ihre Untersuchung der Beziehungen zwischen Arten fort und stellt sie der eigenen Identität gegenüber. Mithilfe von Make-up und Prothesen, abwechselnd Kroatisch und Englisch sprechend, verwandelt sie sich vom menschlichen Wesen in einen Deutschen Schäferhund. Sie erzählt eine Geschichte über das Überleben und den Selbstmord von Tieren.
Dance, Stanley, Dance (2020) ist inspiriert von einem am Straßenrand gefundenen überfahrenen Tier. Das tote Eichhörnchen wird als Aquarell wiederbelebt, es windet sich und pulsiert zu Simnetts Atem, der durch eine Flöte hörbar ist. Die Musik stammt von Daniel Blumberg.
Die interdisziplinäre Praxis von Marianna Simnett umfasst Videos, Performances, Installationen, Skulpturen, Zeichnungen und Aquarelle. Sie arbeitet mit Tieren, Kindern oder Organen und erscheint in ihren Performances häufig selbst. Die in ihren Arbeiten gezeigten radikalen neuen Welten sind mit ungebändigten Gedanken und seltsamen Geschichten und Wünschen belebt. Ihre Werke wurden u. a. in der Kunsthalle Zürich, dem Museum für Moderne Kunst, Frankfurt, und dem New Museum, New York, ausgestellt. Simnett lebt in London.
Ania Soliman
Ania Soliman erkundet die Beziehungen zwischen menschlichem Leben, Natur und Technik. Dafür folgt sie wirklichen und imaginären Spuren. Seit dem Beginn der gegenwärtigen Krise entwickelt Soliman eine Serie von Instagram-Posts. Es sei ein Projekt über Intimität, Gedächtnis und die Technologien der Kommunikation, sagt Ania Soliman über ihre Arbeiten. Im Kunsthaus Bregenz sind sie im Original zu sehen. Es handelt sich um quadratische Zeichnungen auf Papier. Jeweils mit einem Datum versehen, zeigen sie ein Motiv im Zentrum und einen Text in roter umlaufender Schrift. Es finden sich bildliche Verweise auf Bildschirmoberflächen, Computerbefehle, Programmanweisungen, manchmal auch politische Zeichen oder Flaggen. In diesem gezeichneten Online-Tagebuch geht es um Sinnsuche und Selbst-vergewisserung: Wie steht es um die Verantwortung im Zeitalter von digitaler Vernetzung und Fremdbestimmtheit?
Die Ägyptische Künstlerin Ania Soliman, geboren 1970, geht in ihrer künstlerischen Praxis den Übersetzungsprozessen zwischen verschiedenen Kulturen nach. Ihre Werke wurden u. a. auf der Istanbul Biennale, im Turiner Castello di Rivoli, im Museum der Moderne Salzburg und im Museum der Kulturen Basel gezeigt. Soliman lebt in Paris.
»Its exhibition »Unprecedent Times«, running through Aug. 30, is most likely the first (and possibly only) show in a European museum made up of work produced by artists as the virus spread and they sheltered in place this year«
The New York Times, Art Review, 5. August 2020
»Großartige Durchlebenshilfe. […] Etwaiger Banalisierung entkommt man durch Qualität, […] Kunst, die das Reflexionspotenzial erhöht, hilft da wirklich.«
Vorarlberger Nachrichten, Christa Dietrich, 5. Juni 2020
»In den weiten Hallen des Kunsthaus Bregenz ist er förmlich zu hören: Dieser Schrei der internationalen Kunstszene, sich aus der Isolation zurück zu melden.«
ARTE, culture@home #8, 5. Juni 2020
»KUB-Direktor Thomas D. Trummer ist mit der ersten hochkarätigen Corona-Kunstausstellung ein spontaner Coup gelandet.«
Die Presse, Almuth Spiegler, 15. Juni 2020
»Bilder […], die erschreckend gut zum Heute passen.«
Der Spiegel, 30. Mai 2020