KUB Arena
Anfang Gut. Alles Gut.
16 | 07 – 16 | 10 | 2011
Die futuristische Oper Sieg über die Sonne wurde 1913 im Lunapark-Theater in St. Petersburg uraufgeführt und suchte »auf Grundlagen von Wort, Malerei und Musik ein Kollektivwerk (zu) schaffen«. Ihre Autoren - die Dichter Welimir Chlebnikow und Alexei Krutschonych, der Komponist und Maler Michail Matjuschin und der Maler Kasimir Malewitsch - wollten mit der Oper ein »antiharmonisches« Werk gegen den Duktus ihrer Zeit konstruieren. Dies geschah im zaristischen Russland in den Jahren zwischen industrieller Modernisierung und bäuerlicher Leibeigenschaft und nach den ersten Revolutionsversuchen im Jahr 1905. Während die italienischen Futuristen schon vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer Technikbegeisterung eine Maschinerie propagierten und gegen die Menschen in Stellung brachten, ging der russische Futurismus von einer Zukunftsidee aus, die nur durch eine grundlegende Dekonstruktion der kaum industrialisierten Gegenwart möglich schien.
Anfang gut. Alles gut. ist das Langzeitprojekt einer stetig wachsenden Gruppe von derzeit 40 internationalen KünstlerInnen, MusikerInnen, ArchitektInnen und AutorInnen, die diese Fäden der Vergangenheit aufgreift und aktualisiert: Seit 2008 arbeiten die Beteiligten unter Rückgriff auf den historischen Text und die Dokumentationen seiner Aufführungen sowie der Rezeptionen der Oper daran, geeignete Formate zu entwickeln, die das fast 100 Jahre alte Material in zeitgenössische Formen übersetzen und in die Gegenwart überführen. In einem ersten Schritt haben die beteiligten ProduzentInnen zunächst einzelne Aspekte der Oper wie Charaktere, Kostüme, Bühnenbild, Text, Musik oder Lichtsetzung ausgewählt und zum Ausgangspunkt einer künstlerischen Auseinandersetzung gemacht. Die Ausstellung in der KUB-Arena von Juli bis Oktober 2011 zeigt erstmalig die in diesem Prozess entstandenen Aktualisierungen beziehungsweise Neuproduktionen, die vor allem während einer einmonatigen Ausstellungsund Veranstaltungsserie im Mai 2011 im basso Berlin entstanden sind. Neben der Präsentation aller bislang produzierten Arbeiten - unter ihnen Texte, Installationen, Fotografien, Zeichnungen und Kompositionen - bietet ein umfangreiches Begleitprogramm mit Performances, Vorträgen und Workshops die Möglichkeit, die Arbeit an dem historischen Material im Dialog mit den Werken fortzusetzen und die mögliche aktuelle Relevanz des russischen Futurismus in seinen Chancen und Gefahren zu erschließen.
Mit dem Projekt Anfang gut. Alles gut. wird die Vergangenheit mit einer Gegenwart konfrontiert, in der die Nostalgie der revolutionären Zeiten à la mode ist und in der Hochkultur meist folgenlos eine politische Aussage angedacht wird. Der Blick zurück auf die futuristische Oper Sieg über die Sonne ist somit keiner auf eine heroische Erscheinung, denn sie war kein Vorbote der Revolution vier Jahre vor deren vorläufigem Erfolg. Der vor-revolutionäre Futurismus, der in der Oper zum Ausdruck kommt, wird vielmehr in die nach-revolutionäre, massenkulturelle Gegenwart übersetzt, in der die festen Umrisse künstlerischer Bewegungen längst nicht mehr eindeutig identifizierbar sind. Vor diesem Hintergrund setzt sich Anfang gut. Alles gut. als Zusammenschluss künstlerischer Einzelwerke gerade mit den Disharmonien des futuristischen Originals auseinander, ohne es als nostalgische Glorifizierung zu inszenieren.
Die teilnehmenden ProduzentInnen sind: Katrin Bahrs (Hamburg), Thomas Baldischwyler (Hamburg), Roger Behrens (Hamburg), Mareike Bernien/Kerstin Schroedinger (Berlin/London), Ruth Buchanan (Berlin), Nine Budde (Berlin), Robert Burghardt (Berlin), Natalie Czech (Berlin), Yusuf Etiman (Berlin), Jean-Pascal Flavien (Berlin), Devin Fore (New York), Kirsten Forkert (London), Emma Hedditch (London), Fox Hysen/Susanne M. Winterling (Berlin), Oliver Jelinski (Berlin), Christiane Ketteler (Berlin), Anja Kirschner/David Panos (London), Kazimir Malevich (St. Petersburg), Nicholas Matranga (Berlin), Ruth May (Hamburg), Katrin Mayer / Heiko Karn (Berlin), Michaela Melián (München), Jan Molzberger (Berlin), Avigail Moss (Los Angeles), Andreas Müller (Berlin), Ulrike Müller (New York), Harald Popp (Hamburg), Johannes Paul Raether (Berlin), David Riff (Moskau), School of Zuversicht (Hamburg), Schroeter und Berger (Berlin), Jessica Sehrt/Jeronimo Voss (Frankfurt a. M.), Sieg of Sonne Orakel (Berlin), Amy Sillman (New York), Tillmann Terbuyken (Hamburg), Tschilp (Hamburg), Dimitry Vilensky (St. Petersburg), Marina Vishmidt (London), Peter Wächtler (Brüssel), Ian White (Berlin / London).
Initiiert wurde das Projekt von Eva Birkenstock, Nina Köller und Kerstin Stakemeier.
Ein umfangreicher, durch den Hauptstadtkulturfonds Berlin geförderter Katalog wird alle bislang realisierten Projekte, Aufführungen und Veranstaltungen von Anfang gut. Alles gut. dokumentieren, ins Buchformat übersetzen und dabei mit Aufsätzen begleiten (Erscheinungstermin Oktober 2011).
Anfang gut. Alles gut. - life lectures life discussion life screening
Freitag, 07.Oktober 2011, 18 Uhr - Sonntag, 09.Oktober 2011, 19 Uhr
Mit/von Roger Behrens (Hamburg), Eva Birkenstock (Bregenz), Robert Burghardt (Berlin), Devin Fore (New York), Anke Hennig (London/Berlin), Christiane Ketteler (Berlin), Anja Kirschner/David Panos (London), Nina Köller (Berlin), Avigail Moss (London), Andreas Müller (Berlin), Kerstin Stakemeier (Berlin), Marina Vishmidt (London), two slaves (London)
Programm
Freitag, 07.Oktober 2011
Anke Hennig (London/Berlin):
Ist Heute die Zukunft von Gestern? Zeitverschiebungen in der metanoetischen Sprache (Zaum') des russischen Futurismus (dt.)
18 Uhr — 19 Uhr
Der Vortrag behandelt sprachliche Zeitverschiebungen (temporal shifts, vremennye sdvigi) und das poetische Verfahren der Verschiebung (sdvig), das der Futurist Aleksej Kručenych 1922 in seiner Verschiebungslehre des russischen Verses (Sdvigologija russkogo sticha) thematisiert hat. Das Nachdenken über das Verhältnis des Futurismus zur Zukunft soll in eine neue Übersetzung der futuristischen Sprache »Zaum« als »metanoetische Sprache« münden.
Fanzine #3 - Release
20 Uhr — 21 Uhr
Die dritte und letzte Ausgabe des Fanzines - Teil einer Reihe von drei DIN-A5-Heften, die seit April 2010 das Projekt begleitete - zeigt Materialien, Teilaktualisierungen und Texte von fast allen am Projekt beteiligten Produzentinnen. Für die aktuelle Ausgabe haben letztere auf ihre ersten Entwürfe, die im Rahmen von Anfang Gut. Alles Gut. entstanden sind, zurückgeblickt, um sie zu erweitern, zu aktualisieren oder zu kommentieren. Das letzte Fanzine liefert somit einen fragmentarischen Überblick, der vergegenwärtigt, auf welche Weise sich die Beteiligten an die gemeinsame historische Referenz, die Oper Sieg über die Sonne, annäherten. Das Fanzine #3 wird erstmalig in der KUB Arena präsentiert und vor Ort zu erwerben sein.
Samstag, 08.Oktober 2011
Roger Behrens (Autor, Hamburg):
Oper. Das Kraftwerk der Zukunft (dt.)
14 Uhr — 14:30 Uhr
Neben einem kurzen Abriss zur Geschichte der Oper wird sich der Beitrag von Roger Behrens auf die folgenden vier Aspekte konzentrieren: erstens der »Oper« als Inbegriff von Ideal, Idee und Realität moderner Ästhetik, zweitens dem Niedergang bürgerlicher Kunst und der gleichzeitigen Krise der modernen Gesellschaft, drittens Sieg über die Sonne als Oper, aber ebenso auch Kritik an der Oper, und viertens Sieg über die Sonne als Versuch einer radikalen Selbstreflexion - gegen und über die Modernität und ihre ästhetischen Versprechen hinaus.
Devin Fore (New York):
»All is well that begins well and has no end«: Primitive Accumulation and Metabiosis in the work of Dziga Vertov (engl.)
14:30 Uhr — 15 Uhr
While Victory Over the Sun may seem to promise a radical break with the imperialist past and with traditional aesthetic forms, this caesura is undermined repeatedly in the opera by the return of revenant figures from pre-revolutionary society. But this does not necessarily condemn the revolution to failure. Through a reading of Dziga Vertov's film The Eleventh Year, this talk explores Khlebnikov's idea of the »metabiotic community« a form of relationality and intimacy that forges bonds of solidarity between subjects across generations and history.
Diskussion (engl.) / Pause
15 Uhr — 16:30 Uhr
Christiane Ketteler (Autorin, Übersetzerin und Lehrerin für Deutsch, Berlin):
Political Art or Art as Politics - some Remarks via Trotzki (dt.)
16:30 Uhr — 17 Uhr
In der Adaption von Trotzkis Kritik am späten »Futurismus« aus Literatur und Revolution sollen die Konfliktlinien zwischen avantgardistischer Kunst und Politik nachgezeichnet und für die zeitgenössische Situation aktualisiert werden.
Marina Vishmidt (Autorin, PhD Researcher, London):
»The world is like a hole and the hole itself is not hollow« - Abstraction as Allegory in Art and Finance (engl.)
17 Uhr — 17:30 Uhr
Drawing on the passages on art, finance and the developments in real abstraction which correlate them from texts co-produced with Anthony Iles in the past year and a half, I would like to focus on the »mimetic allegories« between the crisis of representation indexed in Russian futurism - political, social, semantic, ontological - and the unrepresentability of finance, perhaps specifically in representations of crisis in recent art production. Since art and finance are in different ways, both technologies of representation of capital, how do we track crises, be it in the forms of representation, the underlying »system« or the relation of representation itself?
Diskussion (engl.)
17:30 Uhr — 18:30 Uhr
Avigail Moss (Künstlerin, London):
o.T. (untitled) (engl.)
18:30 Uhr — 19 Uhr
»It turns out that between a given point and a straight line, one can draw several perpendiculars.«
So goes one of the final sentences in Viktor Shklovsky's 1923 book, Zoo: ili, Pis'ma ne o l'ubvi (Zoo; or, Letters Not about Love, or the New Heloise).
A telling line for a book little concerned with linearity…
Sonntag, 09.Oktober 2011
Andreas Müller (Berlin/ Hamburg):
Town and Revolution (1967) - Architektur von einem Buch aus (dt.)
14 Uhr — 14:45 Uhr
Anatole Kopp's Buch Town and Revolution erschien 1967 in Paris. Auf einer Zeitschiene läge es etwa in der Mitte zwischen heute und der Premiere von Victory over the Sun. Einer seiner Protagonisten, der Architekt Ivan Leonidov, begann in den 1920er Jahren als Entwerfer von revolutionären Gemeinschaftsgebäuden und arbeitete später über viele Jahre an einer utopischen Stadt namens »City of the Sun«.
Robert Burghardt (Architekt, Berlin) / Kerstin Stakemeier (Kunsthistorikerin, Berlin):
Modernism the Allmighty. (Einige) Modernismen diskutiert als Prinzipien der Zeitgenossenschaft
14:45 Uhr — 15:15 Uhr
Es gibt gute Gründe gegen die Realität, wie sie ist, vorzugehen, wir müssen sie also ändern. Dafür kommen wir nicht umhin, nicht nur die Möglichkeiten unserer Zeit auszuloten, sondern ebenso die Möglichkeiten der Zukunft, im Wissen um die vergangenen Erfahrungen. Das ist der Anspruch unseres aktualisierten Modernismus. Wir marschieren durch sein historisches Feld und reihen den Konstruktivismus Hannes Mayers und die jugoslawischen Partisanendenkmäler neben dem russischen Futurismus ein.
Diskussion (engl.)
15:15 Uhr — 16 Uhr
Slaves with Marina Vishmidt:
Speculations, potentially unrealized commerce (engl.)
16 Uhr — 16:30 Uhr
We will somehow humanise the positions into which we are being assimilated, the positions of an avant-garde art movement. Now we are trying to buy our way out of it by occasionally making androgynous purchases.
Diskussion (engl.) / Pause
16:30 Uhr — 18 Uhr
Anja Kirschner (Künstlerin, London) / David Panos (Künstler, London):
The Empty Plan (engl.)
18 Uhr — 19 Uhr
Shifting between documentary, historical actualisation and melodrama, The Empty Plan (HD video, 78 mins, 2010) interrogates the relationship between theory and practice in the theatre of Bertolt Brecht. Exploring different modes of performance and their relation to changing historical and political circumstances the film raises questions about the nature of art and the unrealised dream of its supersession through revolutionary practice.
Einführung / Moderation: Eva Birkenstock & Kerstin Stakemeier